Im Jahr 2012 war ich im Rahmen eines Stipendiums des Berliner Senats für sechs Monate in Istanbul. Dort habe ich mit den Kugelschreiber-Zeichnungen begonnen. Auf der blauen Zeichnung, die bei mir zu Hause im Wohnzimmer hängt, sieht man zwei rechteckige Flächen. Jedes dieser Rechtecke wird durch konzentrisch angeordnete Linien gebildet. Es sieht aus, als seien zwei Blätter übereinander gelegt und gegeneinander verdreht. In den sich überschneidenden Flächen entsteht ein Moiré-Muster.
Den Kelim, der rechts neben der Zeichnung hängt, habe ich während dieser Zeit in Kappadokien gekauft. Wenn man ihn länger betrachtet, fallen einem die kleinen Unregelmäßigkeiten und Fehler auf, die durch die Handarbeit des Webens entstanden. Das Weben eines Kelims ist ein linearer Prozess. Es gibt dabei viele Analogien zu meinem Arbeitsprozess. Beides ist sehr zeitintensiv und repetitiv. Beim Weben eines Kelims hat man nie den ganzen Teppich im Blick. Der bereits fertig gewebte Teil geht nach unten hinweg und ist somit für die webende Person nicht mehr sichtbar. Ebenso ist es bei meinem Arbeitstisch, der 3 x 3 m misst. Für meine großformatigen Arbeiten (bis zu 270 x 190 cm) habe ich mir einen Zeichentisch gebaut, bei dem das Papier nach unten hin weggeführt wird. Nur so komme ich an die Stellen in der Mitte des Papiers. Ich sehe also, ebenso wie beim Weben, nie das ganze Blatt. Teilweise arbeite ich „blind“. Um die Arbeit vollständig sehen zu können, steige ich ab und zu auf eine Leiter. So richtig beurteilen kann ich die Arbeit aber erst ganz zum Schluss, wenn ich sie an die Wand gehängt habe. Erst dann kann ich entscheiden, ob sie gelungen ist, oder ob ich noch eine weitere Schicht darüber zeichne.
Der Komponist Morton Feldman schreibt seine graphischen Notationen mit Tinte, um zu verhindern, dass einmal Gefundenes ausgelöscht wird. Auch Feldman hatte eine Vorliebe für Nomaden-Teppiche, für deren Asymmetrien und Unregelmäßigkeiten. Ihn faszinierte das Nicht-Korrigieren eines einmal fertiggestellten Musters. Auch meine Kugelschreiber-Zeichnungen kann ich nicht korrigieren. Eine einmal gezeichnete Linie bleibt sichtbar. Für mich schließt sich so der Kreis zwischen der Jahrtausende alten Kulturtechnik des Webens, der graphischen Notation neuer Musik und meiner Arbeit.